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Es ist ein fast göttliches Bild, das sich vor Alois aufbaut. Normalerweise könnte er den Blick nicht lösen. Doch es gibt Momente, da kommt stattdessen Wut in ihm hoch.

Endlich war das übliche „Hallo!“ und „Wie war‘s?“ und „Gut siehst du aus!“ überstanden. Als er vor einem halben Jahr nach dem Urlaub im Büro auftauchte, sah er sie ganz schüchtern, hinten in der Ecke, an dem kleinen Beistelltisch, sitzen. Sie blickt ihn mit großen Augen an und wünscht leise einen ‚Guten Morgen‘. Frau Müssigbrodt, ‚Müssigbrodt‘ mit zwei ‚s‘ und ‚dt‘ am Ende, die Chefsekretärin, wollte sie gerade vorstellen. Alois winkt nur ab. So als wolle er sagen,

„Was interessiert mich dieses Kind? Ich bin hier zum Arbeiten!“. Er machte sich keine Gedanken. Er macht sich selten Gedanken um Andere. Er ist schließlich der Chef hier, der kleine Chef, der Abteilungsleiter und das Alphatier. Er kommt gleich nach dem großen Chef und Frau Müssigbrodt. Ständig ärgert er sich, dass diese Dame ihm sagt, was zu tun ist. Eine Dame mit solch einem furchtbaren Namen. Diesen Namen konnte er sich ewig nicht merken, den hat er dauernd falsch ausgesprochen. Auch heute noch verstümmelt er ihn absichtlich, wenn sie ihn ärgert. Das kommt öfter mal vor, zumindest glaubt Alois, dass sie das immer vorsätzlich macht. Auch wenn sie nur Überbringerin der Anweisungen vom ‚Alten‘, dem großen Chef ist, fuchst ihn das mächtig. Und die Müssigbrodt merkt das! Sie ist die Einzige, mit der er per Sie ist und das wird sich nie ändern.

Alois sucht seit Langem die nächste Stufe der Leiter, seiner Karriereleiter. Solange diese Dame hier irgendetwas zu melden hat, wird er auf seinem Stuhl versauern. Da kann er strampeln, wie er will. Das weiß er. Es ist eine heimliche, allseits bekannte Feindschaft, ein nie erklärter Krieg, ein heimliches Gemetzel, ein liebliches, hinterhältiges Grinsen beim Messerwetzen. Meistens endet es mit der Selbstverstümmelung des unverstandenen Helden, von Alois. Und die Müssigbrodt genießt es, wie alle hier.

Weit nach der Frühstückspause, er hat seinen Urlaubsbericht endlich abgeliefert, beginnt Alois, die meterlange Liste seiner Mails zu sichten.

„Wenigstens erst einmal sichten, den Schrott löschen und schauen, ob etwas Wichtiges gekommen ist, vielleicht ein Joke von Manne.“. Manne ist sein Kumpel aus dem Schrebergartenverein. Der ist immer zu einem Spaß aufgelegt, egal wo der hinzielt, gerne weit unterhalb der Gürtellinie.

„Am Donnerstag trinken wir ein ordentliches Bier im Vereinslokal!“, nimmt sich Alois vor. Er weiß, dass Freitag dann ein harter Tag für ihn sein wird.

Da klopft sie schüchtern an seiner offenstehenden Bürotür. Sie traut sich nicht, einzutreten. Sie klopft noch einmal mit ihren schmalen Fingern an den Rahmen der Tür. Diesmal ein wenig, ein klein wenig deutlicher. Sie kennt die Gepflogenheiten nicht. Hier wird nicht geklopft, hier erscheint man einfach. Deshalb nimmt Alois auch keine Notiz von ihr, ignoriert sie absichtlich. Wer nicht an seinem Schreibtisch steht, fast drauf sitzt, ist nicht da! Wer reinkommt, redet einfach drauflos, egal was der andere gerade tut, ob er nachdenkt, telefoniert oder pennt. Der große Chef darf das, andere ausnahmsweise einmal, wenn Wichtiges anliegt, wenn Alois gute Laune hat. Sonst werden sie ignoriert und warten, bis es dem Herrn genehm ist und beginnen ihre Worte von vorn. Frau Müssigbrodt erscheint nie, sie ruft an und Alois klopft an ihrer Pforte.

Und außerdem, wer ist die denn eigentlich? Unter zwei Zentner Lebendgewicht nimmt er kaum jemanden ernst. Höchstens den Alten und die Müssigbrodt. Die Dame mit dem abscheulichen Namen eher widerwillig. Aber dieses Kindchen bringt kaum die Hälfte der Norm auf die Waage! Die könnte sich doch wenigstens mal vorstellen!

Nach dem dritten Klopfen schaut er mürrisch auf. Noch mürrischer brabbelt er:

„Na, was gibt es denn?“. Ein tief versteckter, beinahe väterlicher Unterton ist auszumachen. Es ist der erste Arbeitstag nach seinem dreiwöchigen Urlaub. Trotzdem hat er gute Laune. Er wurde von vielen wegen seiner tollen Ferien beneidet. So etwas baut ihn auf.

„Guten Tag, Herr Ströverig. Bitte entschuldigen Sie die kurze Störung. Ich möchte mich nur vorstellen. Ich bin Mareike Müller, mache seit letzter Woche hier ein dreimonatiges Praktikum.“. Alois fühlt sich gestört. Und nun redet ihn diese Neue auch noch mit ‚Sie‘ an. Das ist hier seit Jahrzehnten nicht mehr vorgekommen. Das darf nur die Müssigbrodt! Nein! Für die ist es Pflicht, zu der braucht er Abstand, je weiter, desto besser. Wenigstens hat sie eine angenehme Stimme. Alois schaut endlich mal richtig auf. Die Kleine beginnt, ihn irgendwie zu interessieren.

„Oi! Da hat mal endlich jemand Geschmack bewiesen bei der Personalauswahl!“. Er kann sich gerade noch beherrschen, diesen Satz nicht laut auszusprechen. Ein hübsches Blüschen hat sie an, findet Alois. Jedenfalls: Der Ausschnitt hat Potenzial, könnte noch eine Etage weiter …

„Andererseits, ein paar Jährchen auf der Weide würden ihr bestimmt guttun!“, findet Alois.

Bevor er einen Gruß sagen kann, muss er niesen, lautstark niesen. Er niest immer besonders laut. Das ist er seiner Stellung hier im Team schuldig. Prompt verschluckt er sich an seinem Kaugummi. Alois hat immer einen Kaugummi im Mund, den ganzen Tag lang denselben. Wenn es knapp wird, kaut er den vom Vortag weiter. Der Kaugummi fliegt in hohem Bogen aus seinem Mund, begleitet von etlichen Hochgeschwindigkeitströpfchen. Das Geschoß verfehlt Mareike knapp. Die erschrickt heftig, wischt sich mit dem Blusenärmel vorsichtshalber übers Gesicht. Dummerweise beißt sich Alois auf die Zunge. Die beginnt augenblicklich anzuschwellen. Von den Schmerzen wird Alois fast schwarz vor Augen. So etwas Blödes ist ihm noch nie passiert. Und diese Praktikantin schaut zu!

„Mach endlich die Tür zu! Es zieht, merkst Du das nicht? Soll ich mir die Schwindsucht holen?“. Er beginnt diesen Satz heftig, endet beinahe in einem Röcheln. Es scheint, als würden das seine letzten Worte sein, für immer die letzten. Wütend steht er auf, knallt das sperrangelweit offenstehende Fenster zu. Während er den Fensterriegel schließt, schimpft er leise:

„Dass die Weiber immer so dämlich sein müssen! Jetzt weiß ich endlich, woher das Wort ‚Dame‘ kommt.“. Einerseits möchte er nicht, dass dies irgendjemand mitbekommt, vor allem nicht diese Sekretärin. Andererseits ist er auf diese Junge so wütend, dass es ihm egal ist, was die von ihm denkt.

„Ist ja sowieso nur eine Praktikantin, die uns die Zeit stiehlt! Und in ein paar Wochen ist die wieder weg!“, denkt er noch. Aber Mareike ist längst wieder an ihren Arbeitsplatz gegangen. Eigentlich ist sie nicht einmal beleidigt, obwohl sie dazu Grund hätte. Trotzdem kämpft sie mit Tränen. Diesen Umgangston hatte sie nicht erwartet. Frau Müssigbrodt warnte sie rechtzeitig.

„Ein Macho ist ein schüchternes Reh gegen den. Bestimmt freut der sich auf ein neues Opfer, wenn er dich sieht! Sei vorsichtig! Zur Not hast du ja mich!“.

In diesem Moment sind zwei Dinge klar. Die Beiden werden keine Freunde und Alois braucht dringend einen neuen Kaugummi, möglichst einen, der seine Schmerzen betäubt. Alois verlässt das Büro. Er hat noch keinen Hunger, das kann sich ändern und mit Schmerzen, noch dazu mit der übelsten Sorte schlechter Laune kann er sowieso nicht arbeiten.

Unter diesen widrigen Umständen beginnt er seine Mittagspause ein knappes Stündchen eher. Vorher geht er noch kurz in die Kaffeeküche und hält seinen Mund unter den Wasserhahn. Er hofft, dass ihm das kalte Wasser seine Schmerzen nimmt, wenigstens etwas. Stattdessen läuft das Wasser auf sein Hemd. Da er gerade eben, er brauchte Trost und eine Nervenstärkung, eine halbe Tafel Schokolade verschlang, ist das Malheur nicht nur als Wasserspur erkennbar.

„Scheiße!“, brüllt er laut. Auch wenn es hier im Bürotrakt nicht zu überhören ist, reagiert niemand. Man kennt ihn. Man genießt sein Leiden in aller Stille.

„Weiber!“, schimpft er deutlich ruhiger und macht sich auf den Weg.

Auf alles ist Alois gefasst. Mit der Müssigbrodt hat er schließlich einschlägige Erfahrungen. Die Dame, auf die er jetzt wartet, scheint vom selben Kaliber zu sein. In Gedanken sieht er ein Walross, eine Frau, eins achtzig mindestens, eine Dampframme, die auf ihn zukommt, dabei alles niedermacht, was ihren Weg tangiert. Knappe zwei Millimeter vor ihm wird sie zum Stillstand kommen. Gegen ihn hat niemand eine Chance. Alois schüttelt sich innerlich.

„So schlimm ist es bestimmt nicht. Der Auftrag ist doch fast in Sack und Tüten, es können nur noch Kleinigkeiten sein.“

Alois wundert sich, dass er nun mit dieser Dame verhandeln soll. Der Alte hatte von einem Dr. Knesebrüll gesprochen, einem etwas exzentrischem Kerl. Einen, den man mit ein paar kleinen Gefälligkeiten oder netten Sprüchen um den Finger wickeln kann. Es wäre im Prinzip alles geritzt, im Prinzip. Ein paar Prozent Preisnachlass, geschickt im Gespräch angedeutet, und der Deal wäre perfekt. Tennisspieler wäre dieser Knesebrüll. Das Thema ist der Schlüssel zum Erfolg, meinte der Alte. Alois hat bis gestern Mittag im Internet alle einschlägigen Informationen zum Tennisspielen verschlungen. Er ist jetzt ein Experte! Und nun diese Dame, von der er nur eine vage Vorstellung hat, die eher einem Albtraum gleicht. Im letzten Telefonat hatte die Dame angedeutet, dass noch Redebedarf – inhaltlich – besteht.

„Das kann doch nicht wahr sein! Die spinnt!“, denkt Alois.

Jede Minute schaut er auf seine Uhr. Sonst lässt ihn solch eine Situation kalt. Heute ist es irgendwie anders. Die Müssigbrodt hatte ihm mit solch einem süffisanten Lächeln „Viel Spaß!“ gewünscht.

Alois kommt es vor, als ob die Zeit rückwärts, wenigstens extrem langsam läuft. Eine kurze Telefonkonferenz wäre dazwischengekommen. Die Sekretärin hat ihn im Foyer auf einen Sessel bugsiert und eine Tasse Kaffee hingestellt.

„Haben sie bitte einen Augenblick Geduld, Herr Ströverig. Der Vorstand braucht den Rat von Frau Müller. Übermorgen tagt doch der Aufsichtsrat …“

Mit dem Aufsichtsrat will sich Alois natürlich nicht anlegen, auch wenn ihn der Aufsichtsrat von dieser Bude hier überhaupt nicht interessiert. Genauso wenig interessiert er sich für die bunten Firmenbroschüren in dem Plexiglasständer links neben der Sitzgruppe. Warum hat er sich keine Tageszeitung besorgt oder wenigstens den ‚Kicker‘? Selbst bei seinem Frisör liegen immer diese bunten Blätter herum. Hinterher weiß er wenigstens, was in den Königshäusern so läuft oder auch nicht läuft.

„Müller, heißt die! Hätte sich mal einen ordentlichen Namen zulegen sollen. Vielleicht so etwas wie seinen, ‚Ströverig‘. Der ist einmalig, den muss er immer buchstabieren und der wird trotzdem dauernd falsch geschrieben. Sind eben alle ein wenig dusselig! Oder ‚ Müssig…, nein!“. Alois denkt den Gedanken nicht zu Ende. Nein, solch einen Namen wünscht er keiner. Wer so heißt, ist von Natur aus bestraft.

Alois geht in Gedanken noch einmal die wichtigsten Vertragspunkte durch. Eigentlich, meint er, kann da nichts zu beanstanden sein. Na gut, die Projektbeschreibung ist etwas vage. Und die Termine passen nicht genau zueinander. Aber das ist doch sonst immer durchgegangen. Was will die nur! Wie heißt die, „Müller“? Das muss doch schief gehen! Alleine dieser Name. Pessimismus streift Alois einen Augenblick.

Dann, nach dem letzten Schluck Kaffee, hat er seine Sicherheit wiedergefunden. Gestern ist er zum stellvertretenden Schriftführer im Schrebergartenverein gewählt worden. Wenigstens dort hat man seine Fähigkeiten erkannt!

Alois sitzt nun schon eine gute halbe Stunde hier. Die Sekretärin brachte ihm gerade die zweite Tasse Kaffee und ein Glas Wasser.

„Dauert noch einen Moment. Frau Müller ist gleich für sie da. Sie können gerne zugreifen!“. Die Dame deutet auf die Obstschale, die hier steht. Ein Schnitzel, ein großes Schnitzel natürlich, wäre ihm lieber. Aber ein Apfel tut es im Notfall auch. Jetzt ist ein Notfall, beschließt Alois und greift nach dem Apfel mit der besonders auffälligen roten Wange.

* * *

Wie die Geschichte weitergeht, erfahren Sie in meinem 2015 erschienenen Buch

Zwischen Alltagswahn und Fankurve

aus der Reihe “Mittendrin und Drumherum“.

 

N.B.: Dominik Leitner veranstaltet ein Blogprojekt unter dem Titel *.txt. Alle 3 Wochen gibt er ein Wort vor, dass die Teilnehmer zu einem Text verarbeiten sollen. Das dritte Wort ist ‘Bild’. Und dieses Werk ist mein Beitrag in diesem Projekt.