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Bitte nicht einsteigen

Bitte nicht einsteigen

Eine Hassliebe steht zwischen uns, der Linie 16 und mir. Wir pflegen sie regelmäßig, mit Inbrunst und kompromisslos. Sie wächst und gedeiht prächtig. Doch diesmal sind die Bahnen der Linie 16 schuldlos, sie treten hier nicht einmal am Rande auf.

Vor etwa zwei Wochen erwartete ich Besuch, lieben Besuch. Er wollte mit der Bahn kommen, per ICE, der ist schnell und pünktlich – theoretisch. Rechtzeitig vor der avisierten, soll heißen, planmäßigen Ankunftszeit machte ich mich auf den Weg zum Bahnhof. Ich ging zu Fuß, mochte es nicht auf einen Zwischenfall mit meiner geliebten Linie 16 ankommen lassen.

Ich hasse es, zu spät zu kommen. Lieber warte ich ein Viertelstündchen, auch zwanzig Minuten verkrafte ich. Außerdem möchte ich mir eine Zeitschrift kaufen. Am Frankfurter Hauptbahnhof gibt es mehrere, sogenannte „gutsortierte“ Zeitungsläden. Da findet man alles, was der Zeitschriftenmarkt so hergibt, sogar Gazetten, die ich mir höchstens im Dunkeln und ordentlich vermummt kaufen würde, wobei mir meine Penunze dafür, für die Utensilien zur Vermummung und für solch ein Blatt zu schade ist.

„Alles roger? Sitzt Du bequem? Hast Du genügend Beinfreiheit? Läuft die Klimaanlage zu Deiner Zufriedenheit? Bietet man Dir Speis und Trank?“, simse ich besorgt und in Erwartung eines klaren, „Alles okay!“ Stattdessen erhalte ich die Antwort:

„Alles roger, bis auf die Streckensperrung! Wir stehen in Bad Soden – Salmünster, Feuerwehreinsatz vor uns. Melde mich, sobald ich mehr weiß.“ Und kurz darauf kommt die Ergänzung, „Wir fahren zurück nach Schlüchtern, ändern die Strecke. Voraussichtlich 90 Min. später!“

Da hat es den Zug auf den letzten 80 Kilometern kalt erwischt. Und es ist genau der Zug, auf den ich so sehnsüchtig warte. Ist dies die Rache der Bahn, weil ich neulich etwas Abwertendes über sie schrieb? Ich tat es nicht grundlos. Wer mich reizt, darf sich nicht wundern, wenn ich die Klinge der Worte wetze.

In Gedanken spiele ich alle Möglichkeiten durch. Nach Hause eilen, mich ins Auto setzen und meine Gute in Schlüchtern aufsammeln, das würde eine Stunde dauern, grob geschätzt. Es ist nicht sicher, ob der Zug in Schlüchtern hält. Letztendlich bleibt mir nur das Warten. Ich beschließe, in die Stadt zu marschieren und mir ein ruhiges Café zu suchen. Es schneit. Und weit und breit finde ich kein nettes Café. Ich setze mich in den Laden irgendeiner weltweiten Backwarenkette und esse einen auf dem Fließband geformten Berliner mit kleckernder Himbeerkonfitüre. Der Kaffee dazu schmeckt ein wenig nach vorgestern. Wenigstens scheint der Kaffeeautomat Vorvorgesternabend durchgelüftet worden zu sein. Es hätte mich schlimmer treffen können.

Paketdienst im Schneesturm

Paketdienst im Schneesturm

Die Zeit vergeht im Schneckentempo, meine Ungeduld wächst ins Unermessliche. Ich beschließe, zurück zum Bahnhof zu laufen. Ich habe viel Zeit, zumindest wenn man die avisierte 90-minütige Verspätung einkalkuliert. Vielleicht, ich gebe die Hoffnung nie auf, vielleicht sind es ja nur 75 Minuten über die Zeit. Ich muss mich beeilen. Außerdem ist das Wetter eines von der miesen Sorte. Selbst der Paketdienst ist halb eingeschneit. Andererseits käme mir solch ein Gefährt recht, es würde mein Fortkommen deutlich beschleunigen.

Anzeigetafel

Anzeigetafel

Die große Anzeigetafel in der Bahnhofshalle zeigt insgesamt 350 Minuten Verspätung für 6 Züge an. Das macht einen Schnitt von knapp einer Stunde pro verspäteten Zug – wenn man den angezeigten Zeiten Glauben schenkt. Mein ICE ist nicht einmal dabei. So etwas nennt die Bahn „Pünktlichkeitsoffensive“.

Auf dem Bahnsteig peile ich die Lage. Für meinen Zug wird eine Verspätung von 60 Minuten angezeigt. Die sind längst verstrichen. Der aktuelle Timer steht auf 103 Minuten. Rechnen können die bei der Bahn also auch nicht. Ich laufe hin, ich laufe her, ich lausche den schwer verständlichen Lautsprecheransagen. Wieder ist eine Minute vergangen. Ich laufe her, ich laufe hin, verharre vor einem Plakat: „Quadratisch, praktisch, gut“. Ein Stück Schokolade würde meine Stimmung auch nicht verbessern. Wieder ist eine Minute rum. Zwei dick eingemummelte Gestalten mit bunten Müllbeuteln in der Tasche verstänkern mit ihren Glimmstängeln außerhalb des Raucherbereichs die Luft. Das ist so, wie pinkeln abseits des gekennzeichneten Pinkelbereichs im Schwimmbad. Mit diesen Gedanken vergeht wieder eine Minute. Der Kaffee meldet sich, ausgerechnet jetzt.

Der verspätete Regionalzug, der auf „meinem“ Gleis einfährt, schafft Abwechslung. Beinahe werde ich überrannt. Ein herrenloser Koffer rettet mich knapp, zwingt die Leute, auszuweichen. Eine Dame hat ihn abgestellt und peilt die Lage am Fahrplan.

„Der Zug nach Stuttgart …?“, fragt sie mich schließlich. Sie meint einen verspäteten Zug am Gleis 9.

„Der kommt heute“, entgegne ich und schicke sie zu Gleis 9.

„Gott sei Dank“, entgegnet sie und meint wohl den Gott der Eisenbahn, das heilige Dampfross. Ihr Zug aus Köln hatte beinahe eine Stunde Verspätung. Sie ist so froh, den Anschluss noch zu kriegen. Ich beneide sie. Ihr Zug kam nur 60 Minuten zu spät.

Die zwei dick eingemummelten Gestalten mit bunten Müllbeuteln in den Taschen steigen in den Regionalzug und leeren die Müllbehälter. Ich sehe von draußen, wie sie sich langsam nach vorne durcharbeiten.

Mein Blick klebt an der Anzeigetafel. Etwas irritiert mich. Na gut, die angezeigten 60 Minuten Verspätung sind schon um 47 Minuten überschritten. Irgendetwas ist anders.

Der sehnsüchtig erwartete Zug ist angekommen, aber ohne, dass mir die Bahn dies sagt. Keine Lautsprecherdurchsage ist zu vernehmen. Bestimmt ist der Bahn diese klitzekleine Zugverspätung total peinlich. Der ICE aus Berlin ist auf Gleis 4 eingefahren, ich warte am Gleis 10. Mit der kleinsten Schrift erscheint diese Information plötzlich auf der Anzeigetafel. Im Laufschritt hechte ich den Bahnsteig entlang und biege zu Gleis 4 ab. Da wartet sie schon, meine Gute. Sie lacht. Ich bin nervlich … Nein, ich bin glücklich. Gerade hat sie mir eine Nachricht geschickt.

„Warte am Gleis 4.“

Nein, Freunde werden wir wirklich nicht, die Bahn und ich. Daran ändert auch die 25%ige Rückerstattung des Fahrpreises nichts. Hätte dieser blöde Zug doch 15 Minuten länger bummeln können, dann gäbe es die Hälfte des Ticketpreises zurück.