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Während Lucie in der Küche der Agentur allein am Kaffeeautomaten steht, gleiten Ihre Gedanken ins Nichts. Sie genießt den kurzen Moment der Ruhe. Das Wasser gluckert in die Tasse, welche die Kollegen wegen ihrer Größe scherzhaft ‚Kameradenbetrüger‘ nennen. Obwohl es noch weit vor der Mittagspause ist, fühlt sie sich gestresst, regelrecht ausgelaugt, wie am Abend nach mehreren Überstunden.

Das halbstündige Telefonat mit Mr. York hatte es in sich. Und immer dann, wenn es nicht nach seiner Nase ging, wurde er persönlich. Der Höhepunkt des Gesprächs war die Aussage
„Was sie auf Lager haben, ist ja echt schwachbrüstig!“. Lucie weiß, das meint er auch in Bezug auf ihre Person. Nie wird er vergessen, wie sie ihn vor einigen Monaten entrüstet anschrie, er solle sich lieber um seine Sekretärin kümmern, als alle Frauen in der Firma anzumachen. Das war genau hier, an diesem Kaffeeautomaten. Sie hatte nicht mitbekommen, dass Frau Schulze-Mitterlich plötzlich hinter ihr steht. Selbst als sie das Hüsteln dieser Dame wahrnahm, war es ihr völlig gleichgültig. Sie war schockiert, als seine Hand sie berührte, von der Taille kommend, zu ihrem Hintern hinunter glitt. Jeden der Finger spürte sie einzeln. Die Schockstarre dauerte nur wenige Augenblicke.
„Na, Schätzchen!“, flüsterte er ihr vielsagend ins Ohr. Inzwischen weiß sie, dass sie ab diesem Moment zwei Feinde hat. Feinde, die ihr Sekunden vorher noch wohlgesonnen waren.

Dabei hatte Mr. York nicht einmal Unrecht. Ihre Oberweite ist wirklich alles andere als üppig. Gerne versucht sie, das ein wenig zu kaschieren. Ansonsten ist sie mit sich und ihrem Äußeren einigermaßen zufrieden. Jedenfalls so zufrieden, wie eine Frau mit sich selbst zufrieden sein kann.

An ihren fachlichen Fähigkeiten gibt es in der Agentur nichts auszusetzen. Lucies Wort zählt. Wenn sie sagt, etwas geht nicht, dann geht es nicht. Wenn etwas machbar ist, dann macht sie das. Egal wie, sie schafft es. Das weiß eigentlich auch dieser Mr. York. Der ist der Verkäufer und fährt ständig zu den Kunden. Seit er das macht, sind bereits zwei abgesprungen, zwei wichtige. Allerdings kamen auch drei Neue hinzu und damit prahlt der Kerl bei jeder Gelegenheit. Jedoch fallen die Aufträge dieser Neukunden umsatzmäßig bisher kaum ins Gewicht.

Eigentlich ist Mr. York ein echter Bayer, einer aus dem allertiefsten Bayern. Dass er nun in Hessen arbeiten muss, wurmt ihn sehr. Mr. York wird er genannt, weil er schon am ersten Arbeitstag in der Agentur zu spät kam und das Ausführen seines Yorkshire als Ausrede vorschob.
„Sonst pisst der mir in die Bude!“, hat er gesagt. Und von seiner Freundin habe er sich gerade getrennt, deswegen könne er die zeitlichen Anforderungen des Gassiführens des kleinen Freundes noch nicht so genau einschätzen. So gestelzt sprechend, hat er sich entschuldigt. Später stellte sich heraus, dass dieses Vieh einfach nur ausgebüxt war.
„Wie kann man den auch von der Leine lassen, das ist bestimmt so eine blöde Teppichrolle ohne jegliche Erziehung!“, sagte Frau Schulze-Mitterlich damals. Inzwischen spricht sie nur in Liebe von diesem ach so süßen Hündchen.

Ansonsten ist Mr. York ein ganz normaler Kollege, eben nur einer, der ein wenig eingebildet ist, sich für den besten Verkäufer hält und jede Frau anbaggert. Ein echter Vertriebler, ein Außendienstler, einer der reden kann, ohne etwas zu sagen und ohne Luft zu holen. Am meisten ärgert sich Lucie allerdings, dass er alle Kolleginnen, insbesondere die Chefsekretärin, Frau Schulze-Mitterlich, anmacht. Wäre Lucie die Einzige, dann … Immerhin verdient der das Doppelte, wenn nicht das Dreifache, wie sie. Aber das gesteht sie sich natürlich nicht ein.

Seit dem Vorfall am Kaffeeautomaten erwähnt Frau Schulze-Mitterlich bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass sie sich kürzlich einen so wundervollen Push-up-BH gekauft hätte. Ihr Männe wäre total begeistert.
„Das muss ja ein Vollidiot sein! Der sollten die lieber zu einer Schlankheitskur schicken.“, denkt Lucie und weiß natürlich wie die das meint.

Gestern Mittag saßen die Frauen im Besprechungsraum. Der Chef war mal wieder ausgeflogen. Da bot es sich an, den Geburtstag einer Kollegin zu feiern. Sie hatte selbst gebackenem Kuchen mitgebracht. Da nutzte Lucie die Gelegenheit. Sie schwärmte, mit leuchtenden Augen auf die Chefsekretärin schielend, dass sie nur noch 53 Kilo wiegt, weil sie dreimal in der Woche mit ihrem Freund Joggen geht und jetzt sogar in die 36 passt. Das ist allerdings ein klein wenig übertrieben. Die Schulze-Mitterlich, die sowieso keine der Frauen leiden kann, irgendwie hat sie es sich mit allen verscherzt, ist fünf Minuten später wieder an Ihren Schreibtisch gegangen. Sie hätte gerade so viel zu tun. Aber wenn der Chef auf Dienstreise ist, hat hier niemand viel zu tun. Es wurde noch eine nette Feier, die übergangslos mit der Mittagspause verschmolz. Frau Schulze-Mitterlich kam nur kurz, ging nebenan in die Küche und wärmte ihr Süppchen vom Vorabend in der Mikrowelle auf.
„Duftet, wie aus der Dose!“, meinte Lucie, als die Dame den Raum verlies. Sicher wurde dies endgültig als Kriegserklärung aufgefasst.

Es ist klar, dass Frau Schulze-Mitterlich etwas sagt. Sie ist natürlich die Erste die eine Andeutung macht. Lucie ignoriert es zuerst.
„Die darf man nicht ernst nehmen.“, denkt sie. Doch dann merkt sie, dass sie es ernsthaft meint. Es ist genau das, worauf Frau Schulze-Mitterlich seit Wochen lauert. Es Lucie einmal so richtig zeigen, wer hier das Alphatierchen ist, sie zu demütigen. Sie ist voll in ihrem Element. Dabei lässt sie meistens die anderen ihre Bemerkungen machen. Sie selbst hüstelt gekonnt im passenden Moment oder murmelt nur ihr
„Ja, ja!“. Das kommt dann scharf wie hundert Messer, geht tief ins Fleisch.

„Hat‘s geschmeckt?“, fragt ein Kollege am nächsten Morgen. Lucie glaubt, er meint das leckere Essen beim gestrigen Sommerfest der Agentur und nickt. Ein Anderer erklärt in der Frühstückspause, sie hätte einen guten Geschmack.
„Jung und knackig im Doppelpack!“. So geht es die nächsten Tage weiter. Zuerst weiß Lucie nicht, was hier gespielt wird. Doch mit der Zeit wird ihr klar, dass die Kollegen darauf anspielen, dass sie so intim mit Raphael, ihrem Praktikanten, getanzt hatte. Und zum Schluss, der Chef hatte schon zum Aufbruch geblasen und der letzte Musiktitel lief, da haben sie sich geküsst, nicht intensiv, nicht flüchtig. Nur kurz berührten sich die Zungen. Es war sehr schön! Lucie war sich sicher, dass es niemand mitbekommen hat. Es war doch ziemlich dunkel und die Diskolampe flackerte obendrein. Das scheint ein Irrtum gewesen zu sein.

„Na gut! Jetzt wissen es alle. Was ist schon dabei. Wir sind jung, die Jüngsten hier. Die sind nur neidisch. Hauptsache es petzt niemand der Freundin von Raphael.“. Das würde ihr sehr leidtun.

Sie lästern immer mehr. Lucie hoffte, dass es nach ein paar Tagen nachlässt. Stattdessen fragen sie, wie es sich angefühlt hat, als seine Hand … Nicht einmal diese Vorlage greift Frau Schulze-Mitterlich persönlich auf. Sie haucht nur
„Sieh an, die Lucie und der Praktikant.“. Sie nennt ihn nie ‘Raphael‘, wie alle hier. Sie sagt immer der ‚Praktikant‘. Das klingt jetzt so, als hätte die erwachsene Lucie den kleinen Raphael verführt. Dabei legt der in wenigen Wochen seine Prüfung zum Master ab, ist schon Mitte Zwanzig, nur sieben Jahre jünger als Lucie!

Immer wenn das Sticheln nachlässt, macht Frau Schulze-Mitterlich irgendeine kleine Bemerkung und gießt Öl ins Feuer.
„Wann kommt der Praktikant eigentlich wieder?“, oder „Wir müssen auf Lucie aufpassen.“. Das heizt dann die Sticheleien an.

So langsam findet Lucie diese dauernden direkten und indirekten Andeutungen lästig. Irgendwann muss doch mal Schluss sein! Und übermorgen kommt Raphael, der Praktikant, wieder. Er hatte ein paar Tage frei, wollte an seiner Masterarbeit schreiben. Das wissen alle und empfinden es nun als Ansporn, weiter mit ihren Anspielungen für Stimmung zu sorgen. Das ist ja so lustig!

Doch nun platzt Lucie der Kragen. Sie hat die Nase gestrichen voll. Es ist nun wirklich genug!

* * *

Wie die Geschichte weitergeht, erfahren Sie in meinem 2015 erschienenen Buch

Lieblich bis Zartbitter

aus der Reihe “Mittendrin und Drumherum“.

 

N.B.: Dominik Leitner veranstaltet ein Blogprojekt unter dem Titel *.txt. Alle 3 Wochen gibt er ein Wort vor, dass die Teilnehmer zu einem Text verarbeiten sollen. Das erste Wort war ‚Gratwanderung‘. Und dieses Werk ist mein 1. Beitrag in dem Projekt.

Die ursprüngliche Textvariante hat deutlich mehr Po, inklusive Leberfleck, gezeigt. Kurz bevor sie rausgehen sollte, kamen mir aber Bedenken und mein Mut schwand dahin. Ich habe die Geschichte dann überarbeitet. Ich verrate jetzt nicht, ob ich die Leberfleckversion gelöscht oder für eine möglicherweise spätere Veröffentlichung aufgehoben habe.